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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, 27.08.2010

Linien, die in die Zukunft führen
von Niklas Maak

In Berlin wirft das Kupferstichkabinett neue Blicke auf das Werk von Hans Hartung und seinen Nachfolgern

Seit einiger Zeit beschäftigen sich Kuratoren und Kunstwissenschaftler wieder mehr mit der informellen deutschen Nachkriegskunst: In Düsseldorf ging soeben die vielbeachtete Ausstellung "Le grand geste" zu Ende, die sich mit dem Informel und dem abstrakten Expressionismus von 1946 bis 1964 beschäftigte. [...]

Wie albern der Vorwurf war, das Informel stelle sich den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nicht, bewies die Kunst selbst: Man kann sich vorstellen, was es bedeutete, als Künstler Berufsverbot zu haben und nur im Keller malen zu können - und natürlich war es ein politischer wie ästhetischer Befreiungsakt, öffentlich, auf einer meterbreiten Leinwand, das zu tun, was im Dritten Reich verboten war und nur auf Notizblockgröße stattfinden durfte. [...]

Aber Hartung und seine Zeitgenossen - darunter vor allem Pollock und Rothko - schafften es, in ihren Bildern eine Tiefenwirkung zu erzeugen, eine Räumlichkeit, die vollkommen ohne hierarchische Perspektivlinien, ohne Vorder- und Hintergrund auskam: Es gibt kein oben und unten, vorn und hinten in ihren Bildern, aber trotzdem die Illusion räumlicher Tiefe. Diese formal-gestalterische Auflösung von Hierarchien, die als unumstößlich und unüberwindbar galten, zugunsten einer freieren Raumvorstellung stellte ein Weltbild in Frage, das auf erkennbaren Hierarchien und Ordnungen bestand - so gesehen war Informel, als utopische Dekonstruktion gängiger Ordnungsvorstellungen, "politischer" als viele gutgemeinte malerische Nachbildungen von Kriegsgreueln. Dass der Abschied von der klassischen europäischen Bildordnung sich auch einer asiatischen Tradition verdankt, die Raumgrenzen ebenso anders zieht wie die Grenzen zwischen Kalkül und Spontaneität, Steuerung und Zufall, Schrift und Bild, Zeichnung und Zeichen - das beweist in der Berliner Schau vor allem eine Arbeit der 1974 geborenen japanischen Künstlerin Hana Usui.

Ihre namenlose Zeichnung von 2008, die auf Hartungs delikate Linienführungen ebenso anspielt wie auf klassische kalligraphische Übungen und die Organisationsdiagramme von Fluglinien, ist eines der jüngsten und besten Exponate in dieser Schau - und gleichzeitig so etwas wie das Echo und die Synopse einer euroamerikanischen Kunstentwicklung, die ihre Wurzeln auch in der traditionellen Kalligraphie Japans hat.

Vom Esprit der Gesten - Hans Hartung, das Informel und die Folgen. Bis zum 10. Oktober im Berliner Kupferstichkabinett. Kein Katalog.

www.faz.net/artikel/C30703/linien-die-in-die-zukunft-fuehren-30303578.html

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Vom Esprit der Gesten. Hans Hartung, das Informel und die Folgen, Kupferstichkabinett - Staatliche Museen zu Berlin, 30. Juli bis 10. Oktober 2010. Weitere teilnehmende Künstler: Gabriele Basch, Peter Brüning, Günter Brus, Salvador Dalí, Günther Förg, Karl Otto Götz, Katharina Hinsberg, Damien Hirst, Willem de Kooning, Maria Lassnig, Roy Lichtenstein, Chris Newman, Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Emil Schreiber, Emil Schumacher, Mark Sheinkman, K.R.H. Sonderborg, Pierre Soulages, Mark Tobey, Cy Twombly, Hana Usui, Emilio Vedova, and Wols.

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